Verhaltens?nderungen beim Eisessen
Wie Lernen und Evolution zusammenh?ngen, erforschen die Verhaltenswissenschaften seit über 100 Jahren – bisher ohne allgemeingültige Antwort. Dr. Matthias Borgstede, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine P?dagogik der Universit?t Bamberg, sagt: ?Mit unserer neuen Forschungsarbeit leisten wir einen entscheidenden Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des Lernens, die für alle Lernprozesse bei allen Arten gleicherma?en gilt.“ Er hat gemeinsam mit dem Psychologen Prof. Dr. Frank Eggert von der Technischen Universit?t Braunschweig einen aktuellen Artikel im verhaltenswissenschaftlichen Fachmagazin ?Behavioural Processes“ ver?ffentlicht. Den Zusammenhang zwischen Lernen und Evolution erkl?rt Matthias Borgstede am Beispiel des Eisessens.
Verst?rkende Wirkung von Eis
?Viele Menschen essen gerne Eis. Das liegt daran, dass unter den Bedingungen, in denen sich der Mensch entwickelt hat, energiereiche Nahrung das ?berleben und die Fortpflanzung positiv beeinflusst hat“, sagt Borgstede. Der sü?e Geschmack des Zuckers ist daher im Laufe der Evolution zu einem Signal für evolution?re Fitness geworden. Sobald die Evolution derartige Signale hervorgebracht hat, tritt ein weiterer Selektionsprozess auf: Lernen durch Erfahrung oder Verst?rkungslernen. Wann immer Verhaltensweisen im statistischen Mittel mit Fitness-Signalen zusammenh?ngen, werden diese Verhaltensweisen selbst zu Fitness-Signalen. Für eine Person, die regelm??ig Eis in ihrem Gefrierschrank hat, wird zum Beispiel das ?ffnen der Gefrierschranktür zum Fitness-Signal. ?Lernen durch Erfahrung besteht nun darin, dass Verhaltensweisen, die evolution?re Fitness signalisieren, selektiert werden“, erl?utert Borgstede. ?Durch diesen Selektionsprozess, kann zum Beispiel das abendliche ?ffnen der Gefrierschranktür und das Herausnehmen des Eises zur Gewohnheit werden.“
Manche Gewohnheiten, wie beispielsweise abendliches Eisessen, haben jedoch einen negativen Einfluss auf die Gesundheit und somit auf die evolution?re Fitness. Das liegt daran, dass Menschen heutzutage praktisch unbegrenzten Zugang zu energiereichen Speisen haben, eine evolution?re Selektion gegen die Vorliebe für sü?e Speisen jedoch noch nicht stattgefunden hat. Abendliches Eisessen l?sst sich daher nur sehr schlecht durch gute Vors?tze oder Appelle reduzieren. ?Schlechte Gewohnheiten sind kein Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung, sondern das Resultat eines Selektionsprozesses durch die Umgebung“, schlussfolgert Borgstede. ?Wenn wir Verhalten ver?ndern wollen, müssen wir daher die Umgebung ?ndern. Zum Beispiel k?nnen wir dafür sorgen, dass kein Eis mehr im Gefrierschrank ist. Auf diese Weise wird der Spaziergang zur Eisdiele in Zukunft selektiert, statt das ?ffnen des Gefrierschranks. Das w?re für die Gesundheit f?rderlicher.“
Lernen als Selektionsprozess
Mit diesem Beispiel zeigt Borgstede, dass Lernen ?hnlich wie die Evolution durch einen Selektionsprozess abl?uft. W?hrend sich bei der biologischen Evolution Lebewesen durch Vererbung über Generationen hinweg ver?ndern, kann aber ein einzelner Mensch sein Verhalten sehr schnell an neue Bedingungen anpassen. Das hei?t: Dass Menschen Sü?es m?gen, ist genetisch in ihnen angelegt. Aber wie sie damit umgehen, h?ngt wesentlich von der Gestaltung ihrer Umgebung ab.
?Ziel unseres Forschungsprojekts ist es, die Ebenen der biologischen und der individuellen Selektion in einem quantitativen Modell formal zusammenzuführen“, fasst Borgstede zusammen. Die Theorie stellt die Konzepte des Lernens und der Sozialisation auf ein sicheres, naturwissenschaftliches Fundament und erkennt gleichzeitig die Komplexit?t menschlichen Verhaltens an. ?Als Verhaltenspsychologen hinterfragen wir grundlegende Prinzipien des Verhaltens“, erl?utert Borgstede. ?Um allt?gliche Begebenheiten zu verstehen, hilft es manchmal, einen Schritt zurückzutreten und einen Gegenstand auf abstrakter Ebene zu untersuchen.“ Mit dem theoretischen Ansatz kann man nicht nur Verhaltens?nderungen beim Eisessen erkl?ren, sondern auch andere Lernprozesse, zum Beispiel, wie Menschen lernen, ihre Zeit zwischen verschiedenen Verhaltensdom?nen wie Arbeit und Freizeitgestaltung aufzuteilen. ?Wir hoffen, dass wir mit unserer Forschung dazu beitragen, dass Menschen die tats?chlichen Ursachen ihres Verhaltens besser verstehen“, so Borgstede. ?Wenn wir verstehen, warum Menschen tun, was sie tun, k?nnen wir in konstruktiver und verantwortungsvoller Weise damit umgehen.“ Verhalten wird demnach weder durch die Gene noch die Umgebung vorgegeben. Es ist das Produkt von Variation und Selektion auf biologischer, sozialer und individueller Ebene.
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt:
www.uni-bamberg.de/allgpaed/forschung/projekte/lernen-als-selektionsprozess
Matthias Borgstede und Frank Eggert im Interview:
https://magazin.tu-braunschweig.de/m-post/die-prinzipien-des-verhaltens-mit-newton-und-darwin-auf-dem-weg-zu-einer-formalen-theorie/
Publikation:
Matthias Borgstede, Frank Eggert. 2021. The formal foundation of an evolutionary theory of reinforcement. Behavioural Processes, Volume 186, 104370. https://doi.org/10.1016/j.beproc.2021.104370
Bild(2.0 MB): Am Beispiel des Eisessens erkl?rt Matthias Borgstede den Zusammenhang zwischen Lernen und Evolution.
Quelle: Benjamin Herges/Universit?t Bamberg
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Dr. Matthias Borgstede
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine P?dagogik
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matthias.borgstede(at)uni-bamberg.de
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